LAND IM TAUMEL
In Kroatien steigt die Zahl der Corona-Patient_innen trotz strenger Sicherheitsmaßnahmen ungebremst. Am Wochenende traf nun auch noch ein Erdbeben der Stärke 5,4 auf der Richter-Skala die Hauptstadt Zagreb.
Sonntag morgen, 6:24 Uhr: Das stärkste Erdbeben seit 140 Jahren reißt Zagreb aus dem Wochenendschlaf. Die altsozialistischen Wohntürme wanken, Verputz und Wände reißen. Möbel stolpern durch die Zimmer, Regale, Schränke und Küchenkabinette leeren sich aus. Gründerzeit-Häuser der historischen Innenstadt zerbröckeln auf die davor geparkten Autos. Die erschrockenen Bewohner_innen laufen auf die Straßen vor ihren Häusern, manche haben noch die Geistesgegenwart, sich davor eine Gesichtsmaske aufzusetzen. Um 7:01, als viele noch in Schockstarre waren, folgte ein Nachbeben der Stärke 5,0.
Dieses Unglück trifft Kroatien, das gerade den EU-Vorsitz innehat, im denkbar schlechtesten Moment.Denn trotz rigoroser Sicherheitsmaßnahmen, die die Regierung vergleichsweise früh eingeführt hat, entwickelt sich die Corona-Epidemie hier genauso exponentiell wie anderswo. Am Sonntag standen die Zagreber_innen vor zwei widersprüchlichen Impulsen: Einerseits ist wegen Corona Drinnenbleiben und Distanzieren angesagt, andererseits war unklar, ob und welche Häuser nach dem Beben sicher waren. Und die engsten Angehörigen wollten natürlich im Moment der Naturkatastrophe verständigt und zusammengerottet werden.
Widersprüchliche Krisen
Die Nation hatte sich eigentlich auf ruhige Tage eingestellt: Mittwoch Nacht waren alle Betriebe außer Lebensmittel- und Hygienegeschäften, Apotheken und Tankstellen geschlossen worden. Schulen und Universitäten waren schon am Montag geschlossen und auf Fernseh- und Onlineunterricht umgestellt worden. Am Wochenende wurde dann der öffentliche Verkehr gestoppt – alle Bus-, Zug- und Straßenbahnlinien wurden eingestellt und die Bahnhöfe geschlossen. Die Fähren der istrischen und dalmatinischen Inseln standen nur mehr den Insulaner_innen zur Verfügung. Die Polizei begann am Wochenende in der Hauptstadt auch schon mit dem schließen größerer und beliebterer Parks, in denen sich die Städter_innen in den warmen Tagen zuvor wohl etwas zu sorglos getummelt hatten. Jetzt standen sie wieder auf den Grünflächen, doch nun bibbernd und verängstigt, denn es hatte es einen Temperatursturz gegeben und in den ersten Stunden nach den Beben fiel sogar ein wenig Schnee in der Hauptstadt.
Heikle Schäden
Wie bereits Minuten nach dem Beben im Internet verbreitet, brach die Südspitze der Zagreber Kathedrale, einem der wichtigsten Wahrzeichen der Stadt, während des Bebens ab. Zahlreiche Kirchen im Stadtzentrum wurden schwer beschädigt; die Decke der Basilika des Heiligen Herzens, der zweitgrößten Kirche der Stadt, stürzte ein. Glücklicherweise gab es dabei keine Verletzten. Denn auch die die Sonntagsgottesdienste, gemeinsam mit allen anderen religiösen Zusammenkünften, waren bereits zuvor im Versuch der Eindämmung der Epidemie untersagt worden.
Im Zentrum waren wegen des Erdbebens insbesondere ältere Gebäude beschädigt. Vereinzelt gab es Stromausfälle und Rohrbruch, auch das vor allem in der Innenstadt. Doch gerade im prestigesträchtigen Zentrum Zagrebs befinden sich viele wichtige Institutionen, Knotenpunkte der Versorgung und Information. Etwa auch das Parlament, dessen Gebäude einen Dachschaden erlitt, weshalb nun Ausweichsorte für die Sitzungen gesucht werden. Ausgerechnet der seismologische Dienst war von einem Stromausfall betroffen und lieferte daher in den ersten Stunden nach dem Beben nur schleppend Information. Gemeinsam mit erschreckenden Bildern, die schon wenige Minuten nach dem Beben im Internet kursierten, trug wohl auch diese verzögerte Reaktion zur Desinformation und Panik beitrug. Gerüchte und Falschinformationen verbreiteten sich auf Social Media und per SMS. In den ersten Minuten nach dem Beben berichtete der öffentlich-rechtliche HRT von einem jungen Mädchen als dem ersten Todesopfer des Bebens, doch das stellte sich später als Fehlermeldung heraus. Die 15-jährige (dazu gibt es immer noch widersprüchliche Berichte) war zwar ohne Puls in das Klaićeva-Krankenhaus eingeliefert worden, konnte jedoch reanimiert und stabilisiert werden. Während des Erdbebens hatte sie schwere Kopfverletzungen erlitten. Ihr Zustand war bei Redaktionsschluss immer noch kritisch. Mütter aus der Geburtsstation im Petrova-Krankenhaus, ebenfalls im Zentrum, liefen mit ihren Neugeborenen auf die Straße. Das Gebäude musste schlussendlich, genauso wie die Lungenheilanstalt Jordanovac, wegen den Schäden evakuiert werden. Das Labor, das die Coronavirus-Tests durchführt – in Kroatien gibt es wohl nur eines, eben in Zagreb, allerdings wollte mir gegenüber während der Recherche dies niemand bestätigen oder dementieren – musste aufgrund des Bebens seine Arbeit kurzfristig unterbrechen.
Ein Krisenstab der Regierungsspitze traf sich um 8:30 in der Nationalbibliothek, danach folgte eine erste Pressekonferenz, in der Premier, Gesundheitsminister und Bebenexpert_innen endlich gesicherte Informationen lieferten. Bis dahin lief im Fernsehen noch das Standard-Sonntags-Zeichentrickprogramm, im Radio gab es außer einer ersten Breaking-News-Meldung kaum konkrete Anhaltspunkte für die besorgten Bürger_innen.
Eine Plage kommt selten allein
Wer bereits einmal Zagreb besucht und die Straßenbahn genommen hat, dem mögen die Warnhinweise etwas überzogen und morbid vorgekommen sein: Auf von der nahezu mediterranen Sonne schon ausgeblichenen Plakaten mit der Überschrift „Evakuationsplan im Falle eines Erdbebens“ werden die Bewohner_innen auf fast jeder Station dazu aufgefordert, sich nach der Naturkatastrophe auf den größeren freien Flächen wie dem Bundek- oder Maksimir-Park zusammenzurotten. In Zeiten der Corona-Epidemie hätte sich dieses Verhalten als fatal herausstellen können.
Doch die Zagreber_innen hatten ohnehin anderes im Sinn: Zu Tausenden begaben sie sich in ihre Autos und verließen die Stadt in Richtung Küste. Wer blieb, stand teilweise noch stundenlang verunsichert auf den Straßen und Plätzen vor den eigenen Häusern; auf den empfohlenen Sicherheitsabstand von einem Meter dachte man im Schreck kaum. Premier Andrej Plenković hielt die Bevölkerung dazu an, noch zumindest bis am Nachmittag und bis Expert_innen für Statik die Häuser inspiziert hatten, draußen zu bleiben, trotz des Temperatursturzes und aufkommenden Windes. Am Abend wurden auch noch für Zagreb die höchste und für Dalmatien die zweithöchste Wind-Warnstufe ausgerufen, die Böen entfachten auf der kroatischen Insel Hvar und in Zelovo nahe Sinj Brände. Die Reiter der Apokalypse machen im katholischen Kroatien einen sehr gründlichen Job, scherzt man nun auf sozialen Plattformen.
Überstürzter Rauswurf
Für dislozierte Bewohner_innen Zagrebs wurde am Sonntagnachmittag in einer Turbo-Aktion das Studierendenheim „Cvjetno Naselje“ geräumt. Das wiederum beraubte viele Studierende einer sicheren Unterkunft, von denen viele nun – wiederum entgegengesetzt zu den Corona-Empfehlungen – zu ihren Familien oder Freunden, oder in ein anderes Studierendenheim ziehen mussten. Die Entscheidung löste auch Chaos und einen Ansturm auf das Heim aus, als die verbleibenden Studierenden noch schnell packen und jene die das Heim schon verlassen hatten ihre Wertsachen noch abholen wollten. „Auf die Straße geworfen wie den letzten Dreck“, schrieb ein Student in einem viralen Post auf Facebook. Bisher haben sich im Cvjetno Naselje, das eine Kapazität von ca. 1700 Betten hat, 59 vom Beben Dislozierte eingefunden.
Premier Plenković hatte bei der ersten Pressekonferenz bereits erwähnt, dass 80 Prozent der Zagreber Bevölkerung in in der Nachkriegszeit oder später entstandenen Wohnblöcken wohnt. Diese waren in Jugoslawien und nach dem katastrophalen Erdbeben in Skopje 1963 unter höheren Bebensicherheitsstandards entstanden. Das heißt, dass die absolute Mehrheit der Zagreber Bevölkerung wohlauf ist und in zumindest nur oberflächlich beschädigte Behausungen zurückkehren kann.
Politische Nachbeben
Die große Herausforderung liegt anderswo: Ein rasanter Anstieg der Corona-Zahlen ist aufgrund der Ausnahmesituation, der mehr als dürftigen Informationslage und der teilweise inadäquaten Reaktionen darauf zu erwarten. Das Virus dürfte sich nun in den Stunden des Schreckens und der Verwirrung sowie der durchs Erdbeben ausgelösten Turbulenzen im Gesundheitssystem und den vermehrten Kontakt zwischen den Menschen rasant verbreitet haben. Es dürfte durch die aus Zagreb Flüchtenden nun auch verstärkt die Peripherie und die Küsten treffen. Zumindest das scheint der Regierungsspitze zumindest bewusst zu sein. Kurz vor dem Beben hatte Gesundheitsminister Vili Beroš auf Social Media vorgerechnet, dass Kroatien aufgrund der begrenzten Ressourcen (im Land gibt es 800 Beatmungsgeräte, davon waren am Sonntag drei in Verwendung) wegen der exponentiellen Natur der Epidemie nur etwa 20 Tage von einem italienischen Szenario trennten. Heute müssen bereits 6 Menschen beatmet werden.
Kroatien, das sich noch vor einigen Wochen als Vorzeigeland inszeniert hat, was die Corona-Krise angeht und tatsächlich viele Sicherheitsmaßnahmen deutlich früher eingeführt hat als Länder Zentraleuropas oder auch der Nachbarstaaten, wird in den nächsten ein bis zwei Wochen vor riesige Herausforderungen gestellt werden. Wegen dem Erdbeben bröckelt die Fassade, buchstäblich und metaphorisch. Die Information fließt nur langsam, Desinformation und Angst verbreiten sich, die Versorgungssituationen außerhalb der Ballungsräume sind sehr schlecht. Was in den öffentlichen und auch internationalen Statistiken verschwiegen wird, ist dass bereits eine Person mutmaßlich am Coronavirus gestorben ist. Ein 70-jähriger Gastronom aus Umag in Istrien hatte Symptome und war in der Selbstisolation, als sein Zustand sich plötzlich verschlechterte und er nicht mehr atmen konnte. Die Rettung kam zu spät und konnte nur mehr seinen Tod feststellen. Die Familie des Opfers (ebenfalls positiv getestet) widerspricht den verharmlosenden Aussagen der Behörden zu diesem Fall. Eine Obduktion wurde eingeleitet, doch über Resultate wurde noch nichts kommuniziert. Es ist bei der aktuellen infrastrukturellen Lage zu erwarten, dass sich solche Fälle häufen werden.
Am Montag wurde bekannt, dass in den nächsten Tagen strengere Richtlinien für Personenverkehr nicht nur in und aus dem Land hinaus (Ende letzter Woche waren die Landesgrenzen geschlossen worden), sondern auch innerhalb des Landes gelten werden. „Die Bekämpfung der Corona-Epidemie ist absolute Priorität, und ich urgiere weiterhin alle, die Sicherheitsabstände einzuhalten und die soziale Distanz zu wahren so gut es in diesen Krisenzeiten geht “, wiederholt Premier Plenković während das Heer Aufräumarbeiten in Zagrebs Zentrum durchführt. Am Montag wurde in Kroatien verboten, die Heimatgemeinde beziehungsweise den politischen Bezirk, an dem der Hauptwohnsitz gemeldet ist, zu verlassen. (Es gelten vereinzelte Ausnahmen.)
Alle, die Zagreb am Sonntag abrupt verlassen hatten, waren daher, wahrscheinlich schon mit dieser Maßnahme im Hinterkopf, von den Behörden an den Mautstationen der Autobahn notiert worden. Es zeigt sich auch in Kroatien, ähnlich wie in anderen Ländern, dass Krisensituationen mit der Beschneidung der Büger_innenrechte und einem Erstarken der Exekutive Hand in Hand gehen. Überall, und damit auch in Kroatien, wird im Kampf gegen Corona zu spät auf ein starkes Gesundheitssystem und Verlässliche Bildung und Kommunikation gesetzt, das wird dann versucht mit Polizeimaßnahmen und Überwachung zu kompensieren. „Wir warten noch kurz mit den Kontrollen, sodass die Menschen Zeit haben, in ihre Heimatgemeinden zurückkehren können“, sagte Innenminister Davor Božinović Montag Mittag. Hätte er vielleicht die Bürger_innen nicht drei bis vier Stunden nach dem Beben komplett ohne Informationen dastehen lassen, hätte man einen Teil der Stadtflucht und damit auch Virus-Ausbreitung vielleicht eindämmen können. Doch nun steht auch ein Verbot des motorisierten Individualverkehrs allgemein steht im Raum. Bitter nötig? Heute sind in Kroatien 481 Menschen positiv auf COVID-19 getestet worden, doppelt so viele wie vor dem Beben. Tendenz steigend.